Der erforderliche Zweck ergibt sich aus dem Inhalt: Die Rüge soll dem Auftraggeber frühzeitig Gelegenheit geben, ein vergaberechtswidriges Verhalten zu erkennen und dieses ggf. zu beseitigen, um das Vergabeverfahren möglichst rasch und ohne zeit- und kostenaufwändiges Nachprüfungsverfahren zum Abschluss zu bringen.
Sachverhalt
Ausgeschrieben in einem EU-weiten Verfahren war die "PlanmäßigInstandhaltung eines Schiffes". Verfahrensart war ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb. In der Bekanntmachung hatte der öffentliche Auftraggeber in Ziffer VI.4.2 des Bekanntmachungsformulars unter der Überschrift „Einlegung von Rechtsbehelfen“ den Wortlaut des § 160 Abs. 1 bis 4 GWB zitiert. Nach dem Teilnahmewettbewerb wurden die geeigneten Bieter zur Angebotsabgabe (Erstangebote) aufgefordert. Unter der Überschrift „Verfahrensgrundsätze“ gab der Auftraggeber in der Angebotsaufforderung an: „Die vertraglichen Regelungen dieses Vertrages sind (…) nicht verhandelbar.“ Im Rahmen der Bieterfragen zum ausgeschriebenen Vertrag teilte Bieter B dem Auftraggeber mit, dass er das Vorgehen der Vergabestelle in mehreren Punkten für fehlerhaft halte, z. B. dass er den „Wettbewerb um Kernleistungen des Vergabefahrens kritisch gestört" sehe, dass er "die dem Verfahren von Seiten des Auftraggebers unterstellte zeitliche Machbarkeit" bezweifele, dass ihm der "vorgesehene neue Vertrag hinsichtlich der beabsichtigten Reparaturbeauftragung ... befremdlich" erscheine. Die vorgebrachten Kritikpunkte schloss er jeweils mit der Frage ab: "Wie stellt sich [der Auftraggeber] im Wettbewerbsfahren verantwortlich zu dieser Problematik?" Der AG beantwortete die Fragen, änderte die Vergabeunterlagen jedoch nicht. Nach der Wertung der Angebote teilte der Auftraggeber B mit, dass er beabsichtige, den Zuschlag an einen Wettbewerber zu vergeben. Dies rügte der B. Der Auftraggeber half der Rüge nicht ab und B beantragte ein Nachprüfungsverfahren.
Beschluss
Mit Erfolg. Für die Frage, ob es sich um Rüge oder Bieterfrage handelt, komme es nicht darauf an, wie der Antragsteller selbst seine Schreiben verstanden wissen wolle. Ob ein konkretes Bieterverhalten eine Rüge i. S. d. § 160 Abs. 3 GWB darstelle, sei von den Vergabenachprüfungsinstanzen objektiv zu beurteilen und stehe nicht zur Disposition der Beteiligten. Anderenfalls könnte ein Bieter mit dem Argument, bisher habe er nur Fragen gestellt, aber keine Rüge erhoben, mit einer „echten“ Rüge zuwarten, ob er den Zuschlag erhält oder nicht. Ein solches „Taktieren“ mit einer Rüge sei gesetzgeberisch jedoch nicht gewollt. Denn die Rüge soll dem Auftraggeber frühzeitig Gelegenheit geben, ein vergaberechtswidriges Verhalten zu erkennen und dieses ggf. zu beseitigen, um das Vergabeverfahren möglichst rasch und ohne zeit- und kostenaufwändiges Nachprüfungsverfahren zum Abschluss zu bringen.
Der erforderliche Inhalt einer ordnungsgemäßen Rüge ergäbe sich aus deren Zweck. Mit einer Rüge bringe ein Bieter zum Ausdruck, dass er eine Vorgehensweise oder ein Verhalten des Auftraggebers beanstanden will. Eine ordnungsgemäße Rüge setze daher nicht nur voraus, dass die Tatsachen, auf die die Beanstandung gestützt wird, so konkret wie für die Nachvollziehbarkeit nötig benannt werden, sondern auch, dass aus der Rüge deutlich wird, dass es sich hierbei um einen Vergaberechtsverstoß handelt, dessen Abhilfe begehrt wird. Um das Erheben einer Rüge und damit den Rechtsschutz nicht unangemessen zu erschweren, seien die Anforderungen an deren Form und Inhalt gering. Daher brauche der Vergaberechtsverstoß nicht exakt, z. B. durch das Nennen einer bestimmten Rechtsnorm, bezeichnet zu werden. Unschädlich sei es daher auch, wenn der betreffende Bieter in seiner Rüge eine andere Rechtsnorm angibt, die verletzt sein soll, als sein erst später hinzugezogener Rechtsanwalt – ebenso wenig komme es darauf an, ob die von ihm genannte Norm tatsächlich verletzt oder z. B. bereits nicht einschlägig sei. Unerheblich für das Vorliegen einer Rüge sei ebenfalls, dass die Beanstandungen des Antragstellers regelmäßig mit einem Fragezeichen endeten. Auch in einem solchen Fall handele es sich nicht um reine Fragen, sondern um „Rügen“ i. S. d. § 160 Abs. 3 GWB, wenn sich aus dem Inhalt der „Frage“ insgesamt ergibt, dass es sich nicht nur um eine bloße (Verständnis-) Frage oder um eine reine Äußerung rechtlicher Zweifel handelt, sondern dass das Vorgebrachte als Mitteilung zu verstehen sein soll, dass der Antragsteller die derzeitige Vorgehensweise des Auftraggebers für vergabefehlerhaft hält, verbunden mit der ernstgemeinten Aufforderung an den Auftraggeber, diesen Vergaberechtsverstoß zu beseitigen.
Eine Nichtabhilfeentscheidung durch den Auftraggeber liege dann vor, wenn die Vergabestelle in ihrer Antwort auf eine Rüge eindeutig zum Ausdruck bringt, dass sie die Rüge als unzutreffend abtut und ihr endgültig nicht abhilft. Es reiche aus, wenn ein Auftraggeber zu einzelnen Rügen konkret Stellung nimmt und mit seiner Stellungnahme keine Änderungen der Vergabeunterlagen in Aussicht stellt. Denn bereits dann sei einem Bieter unmissverständlich klar, dass er sein Angebot auf unveränderter Grundlage abzugeben hat.
Praxistipp
Wenn sich aus dem Inhalt der „Frage“ insgesamt ergibt, dass es sich nicht nur um eine bloße Verständnisfrage oder um eine reine Äußerung rechtlicher Zweifel handelt, sondern dass das Vorgebrachte als Mitteilung dahingehend zu verstehen ist, dass der Antragsteller die Vorgehensweise des Auftraggebers für vergabefehlerhaft und somit rechtsverletzend hält, handelt es sich um eine Rüge.
VK Bund, Beschluss vom 28.05.2020 (Az.: VK 1-34/20)