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Gastbeitrag von Norbert Dippel: Wonach bemisst sich der Auftragswert bei Restarbeiten nach Kündigung des Hauptvertrages?

Beschluss vom 20.02.2025 - RMF–SG21–3194–9–31
Gastbeitrag von Norbert Dippel: Wonach bemisst sich der Auftragswert bei Restarbeiten nach Kündigung des Hauptvertrages?

Norbert Dippel stellt einen aktuellen Beschluss der Vergabekammer Nordbayern zur Handhabung von Restaufträgen als Bezugsgröße für das prognostizierte Auftragsvolumen vor.

Die Situation gehört zum Beschaffungsalltag: Bei der Abarbeitung eines öffentlichen Auftrages läuft es nicht rund, dem Auftragnehmer wird während der Vertragslaufzeit gekündigt. Nunmehr sollen die noch ausstehenden Restarbeiten vergeben werden. Dabei stellt sich die Frage, ob sich das prognostizierte Auftragsvolumen auf die noch zu erledigenden Arbeiten bezieht, oder ob es auf den Gesamtauftrag ankommt. Hierzu hat die VK Nordbayern in einem jüngeren Beschluss (vom 20.02.2025, RMF–SG21–3194–9–31) Stellung genommen.

I. Sachverhalt

Die Vergabestelle schrieb im Rahmen eines aus mehreren Losen bestehenden Bauauftrages unter anderem Abbrucharbeiten europaweit aus. Dieser Auftrag wurde an die Firma F vergeben. Noch während der laufenden Abbrucharbeiten wurde der Firma F gekündigt.

Mit der Erbringung der restlichen Abbrucharbeiten wurde nunmehr die Firma B beauftragt. In einer entsprechenden europaweiten Bekanntmachung informierte der Auftraggeber darüber, dass die Firma B im Wege von Nachträgen die Abbrucharbeiten mit Nachunternehmern ausführen wird.

Hiergegen wandte sich der spätere Antragsteller mit einer Rüge. In dieser forderte er, dass der Auftrag über die Erbringung der Restarbeiten europaweit ausgeschrieben werden müsse.

Der Auftraggeber wies die Rüge mit der Begründung zurück, für die Auftragswertschätzung seien lediglich die ausstehenden Restleistungen relevant. Sie würden den EU-Schwellenwert unterschreiten. Außerdem sei eine Auftragsänderung gemäß § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB möglich, da die Änderung aufgrund unvorhersehbarer Umstände notwendig sei und sich der Gesamtcharakter des Vertrages nicht ändere.

Daraufhin stellte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag. Vier Tage später wurden die streitgegenständlichen Abbrucharbeiten beendet.

Die Antragstellerin stellte infolge dessen ihren Antrag um und forderte nunmehr die Feststellung, dass der zwischen dem Auftraggeber und B geschlossene Vertrag über die Abbrucharbeiten vergaberechtswidrig geschlossen und die Antragstellerin dadurch in ihren bietereigenen Rechten verletzt worden sei.

II. Der Beschluss

Die Vergabekammer hält den Nachprüfungsantrag in Gestalt des Fortsetzungsfeststellungsantrages für zulässig und begründet.

1. Zulässigkeit des Fortsetzungsfeststellungsantrages

a. Statthaftigkeit

Gem. § 168 Abs. 2 Satz 2 GWB ist der Fortsetzungsfeststellungsantrag statthaft, nachdem sich das Nachprüfungsverfahren „in sonstiger Weise“ erledigt und der Antragsteller seinen ursprünglichen Nachprüfungsantrag entsprechend umgestellt hat.

Vorliegend sind diese Anforderungen erfüllt, weil die streitgegenständlichen Restabbrucharbeiten mittlerweile ausgeführt wurden, so dass kein Beschaffungsbedarf mehr besteht.

b. Feststellungsinteresse

Weitere ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung für den Feststellungsantrag ist das Vorliegen eines besonderen Feststellungsinteresses. Das notwendige Feststellungsinteresse rechtfertige sich durch jedes gemäß vernünftigen Erwägungen und nach Lage des Falles anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art.

Die beantragte Feststellung müsse geeignet sein, die Rechtsposition des Antragstellers in einem der genannten Bereiche zu verbessern und eine Beeinträchtigung seiner Rechte auszugleichen oder wenigstens zu mildern. Dies könne gegeben sein, wenn

  • der Antrag der Vorbereitung einer Schadensersatzforderung diene,
  • eine hinreichend konkrete, an objektiven Anhaltspunkten festzumachende Wiederholungsgefahr bestünde oder
  • die Feststellung zur Rehabilitierung des Bieters erforderlich sei, weil der angegriffenen Entscheidung ein diskriminierender Charakter zukommt.

Vorliegend hat die Antragstellerin ihr Feststellungsinteresse mit einer drohenden konkreten Wiederholungsgefahr aufgrund des bisherigen Verhaltens des Auftraggebers begründet. Hierbei hat die Antragstellerin auf weitere Fälle verwiesen, in denen der Auftraggeber sich wiederholt vergaberechtswidrig verhalten und einen Auftrag ohne vorherige Ausschreibung vergeben hat.

c. Zulässigkeit des ursprünglichen Nachprüfungsantrages

Zunächst verweist die Vergabekammer darauf, dass umstritten ist, ob die Zulässigkeit des Feststellungsantrages auch die Zulässigkeit des ursprünglichen Nachprüfungsantrages voraussetzt. Sie verweist auf die unterschiedlichen Positionen1, entscheidet die Rechtsfrage aber nicht, weil der ursprüngliche Nachprüfungsantrag zulässig war.

Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung des Nachprüfungsantrages führt sie insbesondere aus, dass der Bauauftrag der streitgegenständlichen Restleistungen den maßgeblichen Schwellenwert nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i.V.m. Art. 4 der Richtlinie 2014/24/EU überschreitet.

Für die Frage, ob der Schwellenwert erreicht wird, ist auf den voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer abzustellen (§ 1 Abs. 2 Satz 2 EU VOB/A i.V.m. § 3 Abs. 1 VgV).

Isoliert betrachtet liege hier der Auftragswert der ausstehenden Restleistungen unterhalb des geltenden Schwellenwertes. Allerdings sei entgegen der Rechtsauffassung des Auftraggebers vorliegend nicht lediglich die ausstehenden Restleistungen Gegenstand der Auftragswertschätzung. Bei Kündigung des Altauftrags und neuer Vergabe der noch nicht fertiggestellten oder nur mangelhaft erbrachten Leistungen sei für den nach § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert auf den gekündigten Altauftrag abzustellen (unter Hinweis auf: OLG Frankfurt, B. v. 07.06.2022, 11 Verg 12/21).

Rein vorsorglich führt die Vergabekammer aus, dass sich der Auftraggeber auch nicht auf die 80/20-Regelung gem. § 3 Abs. 9 VgV berufen könne. Demnach könnten einzelne Lose eines Gesamtvorhabens, das den EU-Schwellenwert übersteigt, national vergeben werden. Voraussetzung sei, dass der geschätzte Nettowert des betreffenden Loses bei Bauleistungen unter 1 Million Euro liegt und die Summe der Nettowerte dieser Lose 20 Prozent des Gesamtwerts aller Lose nicht übersteigt. Der Auftraggeber müsse jedoch die Lose, die unter die 20 Prozent- Grenze fallen sollen, bei Einleitung des Vergabeverfahrens festlegen und diese Festlegung dokumentieren. Eine nachträgliche Änderung der Loszuteilung sei durch die Selbstbindung des Auftraggebers nicht mehr möglich.

2. Begründetheit des Fortsetzungsfeststellungsantrages

Die Vergabekammer sieht in der Beauftragung eines Drittunternehmens im Wege eines Nachtrags über die Restabbrucharbeiten ohne Durchführung eines europaweiten Vergabeverfahrens eine Verletzung der Rechte der Antragstellerin.

Auch hinsichtlich der von dem Auftraggeber vorgebrachten angeblich zulässigen Vertragsänderung aufgrund von unvorhersehbaren Umständen machte die Vergabekammer kurzen Prozess.

Als Ausgangspunkt stellt sie fest, dass wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit ein neues Vergabeverfahren erfordern. Nach dem Gesetzestext sei von einer wesentlichen Änderung insbesondere dann auszugehen, wenn ein neuer Auftragnehmer den Auftragnehmer in anderen als den in § 132 Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 GWB vorgesehenen Fällen ersetzt (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB).

Diesbezüglich wertet die Vergabekammer – entgegen der Rechtsauffassung des Auftraggebers – trotz der erfolgten Kündigung des Altauftrags die erfolgte Beauftragung als einen derartigen Fall der Ersetzung des Auftragnehmers während der Vertragslaufzeit.

Nach der Systematik des § 132 GWB könne in einem solchen Fall der Auftragnehmer ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens nur unter den Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GWB (im Folgenden auszugsweise wiedergegeben) ersetzt werden:

(2) Unbeschadet des Absatzes 1 ist die Änderung eines öffentlichen Auftrags ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens zulässig, wenn

[..]

4. ein neuer Auftragnehmer den bisherigen Auftragnehmer ersetzt

  • aufgrund einer Überprüfungsklausel im Sinne von Nummer 1,
  • aufgrund der Tatsache, dass ein anderes Unternehmen, das die ursprünglich festgelegten Anforderungen an die Eignung erfüllt, im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung, wie zum Beispiel durch Übernahme, Zusammenschluss, Erwerb oder Insolvenz, ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt, sofern dies keine weiteren wesentlichen Änderungen im Sinne des Absatzes 1 zur Folge hat, oder
  • aufgrund der Tatsache, dass der öffentliche Auftraggeber selbst die Verpflichtungen des Hauptauftragnehmers gegenüber seinen Unterauftragnehmern übernimmt.

Nach Ansicht der Vergabekammer liegen die vorzitierten speziellen Voraussetzungen für die zulässige Ersetzung des Vertragspartners nicht vor. Damit sei im vorliegenden Fall die Regelung über Vertragsänderungen aufgrund nicht vorhersehbarer Umstände (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB) nicht anwendbar (unter Bezugnahme auf: BayObLG, B. v. 21.02.2024, Verg 5/24).

Mangels zulässiger Vertragsänderung hätten die streitgegenständlichen Restabbrucharbeiten daher auch nach der Kündigung des ursprünglichen Auftragnehmers erneut öffentlich ausgeschrieben werden müssen.

III. Hinweise für die Praxis

Die zum Teil erheblich angehobenen Wertgrenzen für Direktaufträge verleiten vielleicht auch ein wenig dazu, Teilaufträge als Bezugsgröße für das prognostizierte Auftragsvolumen zu nehmen. Dass dies im Fall von Restaufträgen unzulässig ist, hat die Vergabekammer Nordbayern deutlich herausgestellt.

Quelle: cosinex Blog, URL https://csx.de/fldoL.

Die hier zitierten Entscheidungen finden Sie in der Regel über https://dejure.org/. Sollte eine Entscheidung hierüber nicht auffindbar sein, hilft Ihnen Ihre zuständige Auftragsberatungsstelle gerne weiter.